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Artikel

09.04.2020

Offener Brief an den Hessischen Kultusminster


Es stellen sich gerade zahlreiche Fragen, die aus Sicht des elternbund hessen e. V. dringend einer Klärung bedürfen.

Sehr geehrter Herr Staatsminister,

das Land Hessen und seine Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer befinden sich zurzeit durch das Coronavirus in einer extrem außergewöhnlichen Lage. Wir können nur ahnen, was das für Ihre Verwaltungsbehörde derzeit bedeutet. Trotzdem oder gerade deshalb stellen sich zahlreiche Fragen, die aus Sicht des elternbund hessen e. V. dringend einer Klärung bedürfen.

Da es zum jetzigen Zeitpunkt sehr unwahrscheinlich ist, dass bereits in 14 Tagen die Schulen wieder vollständig geöffnet werden, ist eine konzeptionelle Weiterentwicklung des derzeitigen Homeschoolings geboten. Aus der Retrospektive betrachtet, sind die Quantität und die Qualität des Homeschoolings von Schule zu Schule, teilweise auch innerhalb einer Schule sehr unterschiedlich. Es gibt unseres Wissens nach keinerlei Anleitung oder Konzept zur Anleitung der Schülerinnen und Schüler und deren Eltern für die bei dem „Lernen auf Distanz" auf sie zukommenden Aufgabe. Es steht zu befürchten, dass insbesondere Kinder und deren Eltern mit nichtdeutscher Muttersprache mit der derzeitigen Situation und ihren besonderen Anforderungen überlastet sein werden. Gleiches gilt für Elternhäuser mit bildungsfernem Hintergrund.

Es erscheint unerlässlich, Schulen und Lehrkräften konkrete Hilfestellungen an die Hand zu geben. Best-Practice-Beispiele aus hessischen Schulen, aber auch aus anderen Bundes- und Nachbarländern wären sehr hilfreich. Die bloße Verteilung von Arbeitsaufträgen an die Schülerinnen und Schüler mag aufgrund der Schnelligkeit der Entwicklung der Pandemie für die Anfangszeit noch hinnehmbar gewesen sein. Sollte das Homeschooling nach den Osterferien - erste Hinweise gibt es bereits - fortgesetzt werden müssen, erwarten die Eltern und auch wir konkrete Informationen und Anweisungen von der obersten Bildungsbehörde.

Wir erachten es daher als dringend erforderlich, Eltern so früh wie möglich über das weitere Vorgehen bezüglich der Schulschließungen zu informieren. Eltern brauchen gerade jetzt ein Mindestmaß an Planungssicherheit. Sie sind kaum mehr belastbar, da sie neben der Betreuung und Unterrichtung oft neben ihrer eigenen Arbeit im Homeoffice und Homeschooling auch noch behinderte bzw. alte Familienmitglieder versorgen müssen.

Wir bitten für einen möglichen Wiedereinstieg auch zu prüfen, ob ein Schichtsystem wie in Island und Dänemark ein erster Schritt zurück ins Schulleben sein und zu einer ersten Entlastung der Familien führen könnte.

Es wäre ein Zeichen der Fairness, Schülerinnen und Schüler, aber auch deren Eltern darüber zu informieren, dass die während der schulfreien Zeit erbrachten Leistungen weder bewertet werden noch als Grundlage für spätere Klausuren dienen dürfen. Dem elternbund hessen liegen zahlreiche Hinweise und Beschwerden vor, in denen Schülerinnen und Schülern mit einer negativen Bewertung oder Einträgen ins Klassenbuch gedroht wurde, sollten sie Arbeitsnachweise zu spät abgeben oder diese den Anforderungen nicht entsprechen. Es wäre in dieser für uns alle sorgenvollen Zeit eine Entlastung, wenn wir von Ihnen endlich klärende Informationen erhalten würden.

Ferner ist den Schülerinnen und Schülern, aber auch den hessischen Eltern dringend und zeitnah mitzuteilen, wie Leistungsbewertungen, Versetzungen und für die Viertklässler Übergänge zu regeln sind. Schon jetzt sind die gemäß hessischem Schulgesetz erforderlichen schriftlichen Leistungsnachweise kaum noch zu erbringen; bei Fortdauer der Schulschließungen erscheint dies ausgeschlossen. Der elternbund hessen empfiehlt daher für dieses Halbjahr, weitestgehend auf die Vergabe von Noten zu verzichten und Schülerinnen und Schüler automatisch in die nächste Jahrgangsstufe zu versetzen. Den Schülerinnen und Schülern bleibt das Recht vorbehalten freiwillig den Jahrgang zu wiederholen und nicht, wie vom DLV empfohlen, automatisch sitzenzubleiben, wenn sie bereits vor der Coronakrise nicht ausreichende Leistungen aufweisen.

Ganz besonders große Sorge bereitet dem elternbund hessen die sich ausweitende Bildungsungerechtigkeit. Bis zu 30% der Schülerinnen und Schüler werden zurzeit gar nicht erreicht, weil die Schule nicht über alle E-Mailadressen verfügt, Eltern keine Informationen erhalten haben, über keine oder mangelhafte Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen oder Probleme mit dem Umgang digitaler Werkzeuge haben. Viele Kinder haben zuhause keinen eigenen PC, keinen Scanner und keinen Drucker. Die häusliche Situation ist in einer Vielzahl von Fällen angespannt, da sich zurzeit auf knappen Wohnraum alle zu Hause aufhalten sollen. Gerade jüngere, aber auch leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler sind häufig mit der Bewältigung der ihnen erteilten Arbeitsaufträge überfordert. Insbesondere für Kinder, deren Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage waren, ihre Kinder zu unterstützen, müssen Schulen nach Wiedereröffnung ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur individuellen Förderung und Wiedereingliederung umsetzen, um ein Ansteigen der bereits jetzt nur schwer hinzunehmenden Bildungsungerechtigkeit entgegenzuwirken. Dazu gehören auch ein Willkommens-, ein Bewegungs- und ein Sportpaket.

Wir bitten Sie, zu ermitteln, welche Vorstellungen und Konzeptionen es in den Schulen und staatlichen Schulämtern gibt, sich auf das Wiederkommen der Schülerinnen und Schüler vorzubereiten, damit Eltern nicht im Anschluss an die Pandemie neue Überraschungen erleben müssen. Werden die Schulprogramme für derartige Krisenzeiten im Sinne eines Pandemieplans fortgeschrieben?

Der elternbund hessen bittet darum, dass jedes Kind bei seinem Wiederkommen einen individuellen Förderplan erhält und entsprechende Lernprogramme für sie angeschafft bzw. vorgehalten werden. Auch Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs sollten erst einmal entfallen, um weiteres Personal für eine zielgerichtete Förderung frei zu bekommen. Zusätzliche Zeit muss allen Kindern mit Unterstützungsbedarf eingeräumt werden und Personal zum Nachholen muss bereitstehen. Nachhilfeinstitutionen könnten freiwerdende Ressourcen an die Schulen abgeben. Außerdem müssen zusätzliche Ressourcen bereitgestellt werden. Lehramtsstudierende, die auf Anfrage bereits im Schuldienst eingesetzt werden, böten die Chance, Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, wie das z. B. in Finnland geschieht. Dies gilt auch für Abiturienten, die in der Grundschule ein Corona-Zertifikat erwerben könnten. Auch für sie wäre diese Zeit kostbar.

Die Vorschläge, die Sommerferien zu nutzen um die Defizite, die entstanden sind, zu kompensieren müssen geprüft werden. Analog zu den „Ostercamps", in denen Schülerinnen und Schüler neben Freizeitangebote auch Lernangebote erhalten um Defizite auszugleichen, könnte es „Sommercamps" geben. Das müssen freiwillige Angebot sein, denn viele Familien haben bereits Pläne für die Sommerferien, die sie hoffentlich wahrnehmen können. Wir fordern die Kultusbehörde auf für diese „Sommercamps" Modelle zu entwickeln und zu prüfen, wer die Schülerinnen und Schüler bei diesen Angeboten unterstützen kann und zu welchen Konditionen.

Die Krise hat gezeigt, dass das Bildungssystem in der Krise verletzlicher ist als andere Systeme, insbesondere für Kinder aus benachteiligten Familien. Die Schulen müssen für Krisensituationen, wie wir sie jetzt erleben, weiterentwickelt werden. Dazu gehört zumindest für die Schulen der Sekundarstufe I das zweite Standbein des Unterrichts per Onlinelernen. Hier erwartet der elternbund hessen, dass endlich wie in den Nachbarländern gehandelt wird und die bisherige Fachlichkeit auf freiwilliger Basis beseitigt und dem beruflichen Ethos Platz macht. Wir nehmen die Expertinnen und Experten ernst, die voraussagen, dass wir bis zu zwei Jahren brauchen, um Corona zu überwinden, aber auch weitere Pandemien ankündigen. Niemand von uns wünscht sich das, aber Sie würden sicher auch verstehen, dass Eltern kein zweites Mal so geduldig und rücksichtsvoll mit Homeworking und Homeschooling umgehen würden.

Wir halten es für wichtig mit allen Beteiligten, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sowie Eltern nach Modellen und Lösungen zu suchen. Der elternbund hessen wird sich gerne in diese Diskussion einbringen.

Frankfurt am Main, den 09. April 2020

Für den Vorstand


Klaus Wilmes-Groebel
Vorsitzender des elternbund hessen e.V.


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